Der Hypochonder – Leiden und Ursachen

Definition:

Das Wort Hypochondrie stammt aus dem Griechischen und bedeutet: "Unterhalb des Knorpels". Gemeint ist der Bereich des unteren Rippenbogens, in dem die Alten häufig funktionelle Störungen beobachteten. Der Hypochonder zeigt eine zwanghafte Neigung, seinen Gesundheitszustand zu beobachten. Griesinger schreibt über den Hypochonder: "Er untersucht gerne seinen Puls, seine Zunge, seine Excretionen und findet oft bei diesen Untersuchungen Motive der Furcht oder der Hoffnung, von denen er zuweilen, auch wenn es das Unsauberste betrifft, mit einer Art Wollust jedermann unterhält. Der heftige Wunsch zu genesen, läßt ihn häufig mit den Ärzten und den eigenen Heilplanen wechseln, er holt sich Rat in medizinischen Schriften, und ändert nun oft die bisherigen Ansichten über seine Krankheit, indem er alles, was er liest und hört, auf sich anwendet. Die Erwähnung einer Krankheit genügt, um ihm die Vorstellung, daß er selbst daran leide, hervorzurufen und er erhält nun, durch diese Vorstellung angeregt, neue sekundär entstehende anomale Empfindungen aus den betreffenden Organen (2).

Ich habe Kopfschmerzen

Eine 19jährige Abiturientin berichtet im Erstgespräch: "Im letzten Jahr fing alles an. Wir wollten verreisen. Seitdem habe ich totale Angst. Ich kann mich nicht mehr richtig freuen. Ich habe Kopfschmerzen. Die sind nur links. Das fühlt sich an wie ein Stein. Ich war schon bei tausend Ärzten. Ich knirsche mit den Zähnen in der Nacht. Ich kann nicht mehr gut einschlafen. Ich habe jeden Tag Kopfschmerzen. Ich nehme Beruhigungstabletten. Meine Mutter hat auch immer Migräne. Sie nimmt Tabletten. Sie ist richtig depressiv. Das ist schon total lange so. Sie sagt schlechte Sachen über mich. Sie sagt: 'Kein Wunder, daß dich keiner mag'. Meine Mutter ist immer krank. Sie ist immer leidend. Ich bringe ihr morgens die Sachen ans Bett. Meine Mutter ist so krank. Sie liegt oft apathisch im Bett. Ich weine oft. Ich bin in Panik. Ich kann die Stimmung Zuhause nicht mehr ertragen. Ich darf nichts Falsches sagen, damit die Stimmung gut bleibt. Seit einem Jahr fühle ich mich unglücklich, ich bin unselbständig, niedergedrückt und unsicher. Ich kann mich nicht mehr konzentrieren."

Bei der Schülerin besteht ein Ablösungskonflikt vom Elternhaus mit hypochondrisch gefärbten Angstzuständen, Minderwertigkeitsproblematik, Identitätsstörung und aggressiven Durchbrüchen gegenüber der Mutter. Sie kann die Tochter nicht selbständig werden lassen. Die Krankheit der Mutter spielt in der Familie eine große Rolle. Die Tochter befindet sich auch in einer ödipalen Konfliktsituation mit Feindschaft gegenüber der Mutter und einer starken Bindung an den Vater. Er hängt sehr an seiner Tochter und ermöglicht ihr alles, was in seinen Diensten steht. Er ist ein zuvorkommender Mann, der sich gegenüber seiner Frau und seiner Tochter nicht abgrenzen kann.

Die Patientin wirkt wie ein verzogenes Kind. Sie ist egozentrisch. Ihre wechselnden Schmerzen und ihr nicht zu stoppender, übertreibender Redefluß stehen im Vordergrund ihres Verhaltens. Sie ist reflektions- und einsichtsfähig, auch wenn sie es nach außen nicht zeigt. Sie schwankt zwischen Einsicht, Anpassung und Trotz. Sie berichtet einige Träume von ihrer vergangenen Verliebtheit zu einem Schulfreund. Wir analysieren sie, wobei sie ein kühles Interesse zeigt.

In jeder Sitzung breitet sie ihre Klagen aus: "Ich habe Angst, daß ich in dem Tractus thalamo-corticalis einen Tumor habe. Also die Bahn, welche die bewußte Empfindung bzw. Körpergefühlsphäre ausmacht. Es ist ja peinlich, aber ich komme darauf, weil ich auf der linken Seite nichts fühle. Früher dachte ich immer, es wäre Brustkrebs. Jedenfalls ist es auf der Seite nicht so wie auf der anderen und ich bekomme kaum Gänsehaut. Es ist schon fast unangenehm. Hinzu kommt noch, daß mir ein Punkt im Nacken weh tut, wahrscheinlich ist es die medulla oblongata. Ich habe total Angst. Vielleicht sollte ich eine Computertomographie machen!"

Abwertung von Sexualität

Die Krankheitsbefürchtungen dienen der Abwehr von Aggression und Lebensfreude. Sexuelle Empfindungen wertet sie ab: "Wenn es mir zu einer bestimmten Zeit an einer bestimmten Stelle, was zu erwähnen zu peinlich wäre, juckt und zwickt, bekomme ich gleich Panik. Und obwohl ich meine Schwester frage, ob es bei ihr genauso sei und sie dies bejaht, überlege ich, ob ich zur Frauenärztin gehe oder nicht, und es wäre mit aber doch zu peinlich und so gerate ich ständig in Konflikte mit mir selbst. Allein, daß ich dies schon aufschreibe, ist ja nicht ganz normal. Ich habe Angst vor irgendwelchen peinlichen Krankheiten." Hinzu kommt, daß sie die überbesorgte Haltung dem Körper gegenüber der Mutter abgeschaut hat. Auch diese lebt in der Welt eingebildeter Krankheiten und der Ärztebesuche.

Ich habe total viel Luft im Bauch

In einem Gespräch zwei Monate später berichtet sie: "Zur Zeit ist mir immer so schlecht; ich habe total viel Luft im Bauch. Ich bin auf eine Freundin total eifersüchtig. Sie ist in allem besser als ich. Ich finde gar nicht zu mir selbst. Mir wächst alles über den Kopf mit den Weibern. Ich habe Angst davor, daß ich mich von ihnen ausnutzen lasse. Die Gefahr ist da, weil wir zusammen wohnen.

Heute Nacht träumte ich: Mein Vater und ich sind bei Ihnen. Ich habe eine Kniearthrose. Dann spritzen Sie meinem Vater etwas, damit es ihm besser geht. Plötzlich bekommt er keine Luft mehr. Sie laufen zu ihm, beatmen ihn. Dann sind wir mit meinem Vater draußen. Sie halten meinen Vater im Arm. Mein Vater ist am Sterben. Er sagt noch, daß Sie ihm etwas gespritzt hätten. Es ist aber nicht Ihre Schuld. Auch ich kann Ihnen keine Schuld geben. Sie bemühen sich ja noch um ihn. Ich rufe den Rettungswagen, beschreibe die Ecke und sage, er solle so in 10 Minuten dasein. Das ist aber zu lang und ich merke es. Es ist schrecklich. Mein Vater ist dann tot. Ich wache auf und will weiterschlafen, damit mein Vater wieder zum Leben erwacht. Im nächsten Traumteil habe ich irgendetwas verbrochen und bin geflüchtet. Ich komme ins Gefängnis mit drei Jungs zusammen, die auch etwas verbrochen haben. Ich liege dann auf dem einen. Sie wissen schon...

Meine Gesichtshälfte ist wieder da. Ich habe Angst, daß das von der chronischen Zahnentzündung kommt. Im Röntgenbild war nichts zu sehen. Ich habe Angst, daß es nicht mehr weggeht. Mir geht es gar nicht gut. Ich erhole mich nicht mehr!"

Sie geht zwei Freundschaften ein, die unglücklich verlaufen. Sie kann sich auf keinen Mann richtig einlassen. Immerhin nimmt sie sexuelle Kontakte auf und lernt, Beziehungen zu gestalten. Allmählich verschwinden die hypochondrischen Beschwerden aus ihrem Alltagsleben und zwischenmenschliche Beziehungskonflikte rücken zunehmend in den Vordergrund. Inzwischen hat sie ein Studium begonnen. Sie lernt es, sich von ihren Eltern abzugrenzen, Beziehungskonflikte auszuhalten und zu verbalisieren: "Ich habe mir ein kleines Büchlein angelegt, in dem ich all solche Dinge hineinschreibe. Nun habe ich etwas ganz Privates für mich." Der Selbstzweifel und der Selbsthaß nehmen ab. Nur noch in Krisensituationen fällt sie in ihre alten Verhaltensmuster zurück.

Psychodynamik der Hypochondrie

Der Rückzug des Hypochonders auf seinen erkrankten Körper erklärt sich aus seiner Familienstruktur: er ist eng in das Familiensystem gebunden, aus dem es kein Entweichen gibt. Das vermehrte Besorgtsein um die Gesundheit des eigenen Körpers hat seine häufigste Ursache in einer ungelösten, verinnerlichten Eltern-Kind-Beziehung, die auch oft in der Realität zu eng ist. Die Eltern lassen ihre Kinder nicht los, diese können sich von den Eltern nicht trennen, weil sie Schuldgefühle haben, sobald sie sich von ihnen lösen. Die innere Unfreiheit, das Besitztum, die zu starke Beschäftigung der elterlichen, verinnerlichten Objekte mit der Seele des Kindes bewirken:

  1. Abwehr von aggressiven Ablösungsimpulsen, die sich gegen die Eltern richten.
  2. Das Besessensein vom elterlichen Objekt kann sich in Zwangsvorstellungen, Zwangskrankheiten oder Süchten äußern, auch in einer übermäßigen Inanspruchnahme und Beobachtung des eigenen Körpers. Die zwanghaften Gedanken um die gesundheitliche Fürsorge hat aggressiven Charakter, der sich gegen die eigene Person richtet.
  3. An Eltern gebundenen Menschen sind häufig nicht in der Lage, sich frei und kontaktfreudig auf die Umwelt zuzubewegen. Stattdessen beschäftigen sie sich zu sehr mit sich und ihrer Familie. Sie befinden sich in einem elterlichen Käfig oder Gefängnis, in dem die Gedanken immer wieder um die eigene, enge Welt kreisen. Dieser narzißtische Rückzug von der Außenwelt bewirkt eine vorwiegende Beschäftigung mit sich selbst, hier die hypochondrische Angst.
  4. Die vermehrte Fürsorge um den eigenen Körper hat seine Wurzeln auch in Verhaltensweisen, die das Kind von den Eltern erlernt hat: Überfürsorglichkeit und Ängstlichkeit um das Wohlergehen des Kindes stellen Grenzüberschreitungen dar, die sich in Gestalt der hypochondrischen Befürchtung unbewußt wiederholen.

Freud faßt die Hypochondrie als narzißtische Neurose auf: "Der Hypochondrische zieht Interesse wie Libido... von den Objekten der Außenwelt zurück und konzentriert beides auf das ihn beschäftigende Organ (1)."

Die hypochondrische Zwangsbefürchtung ist der Zwangsbesessenheit von Gedanken oder Suchtformen gleichzusetzen. Sie entspricht der Besitznahme durch ein elterliches Objekt, welches den Aufbau des Selbst und der Identität des Kindes verhindert hat (4).

Die Bindung ist bei der o. g. Patientin einerseits durch eine hypochondrisch erkrankte Mutter entstanden, indem sie sich mit ihr identifiziert, andererseits bewundert und liebt sie ihren Vater, wie die Analyse ihrer Träume zeigt. Sie ist über lange Zeit nicht in der Lage, die enge Bindung an die Eltern zu erkennen, insbesondere nicht an den Vater. Sie träumt und erinnert statt dessen stets von ihrem ersten Freund, mit dem sie eine platonische Liebe gehabt hat. Das Verhältnis zu ihrer Mutter ist von starker Ambivalenz geprägt: Sie liebt sie, sie paßt sich ihr an, unterwirft sich ihr, sie haßt sie und verachtet sei. Sie hat Angst, sich dem anderen Geschlecht näher zuzuwenden. Körperliche Nähe beschreibt sie als abstoßend und ekelerregend. Ihr unbewältigter Ablösungskonflikt zeigt sich in hypochondrischen Beschwerden, depressiven Verstimmungen und in einer Störung ihres Selbstwertgefühls, das durch ihre infantile Rolle mitbedingt ist. Sie darf sich nicht als erwachsene Frau mit der Fähigkeit, Sexualität und Aggressivität auszuleben, wahrnehmen. Die Erlaubnis und vor allem das Können hierzu muß sie sich mühsam erarbeiten und einüben. Ihre Träume helfen ihr dabei, die unbewußten Konflikte zu erkennen und sich einem Mann dauerhaft – unter langsam abnehmenden Selbstzweifeln – zuzuwenden

Therapie des Hypochonders

Zunächst ist zu prüfen, ob ein hypochondrischer Patient einer Psychotherapie zugänglich ist. Je nach seiner Motivationslage stelle ich mich auf seine hypochondrischen Beschwerden führend, aber auch mitfühlend ein. Meine Therapie beinhaltet eine konfrontative Technik mit Betonung der Traumanalyse. Die Traumanalyse ermöglicht dem Patienten die Einsicht in unbewußte Konflikte. So wird es ihm allmählich gelingen, aus seiner hypochondrischen Körperbezogenheit auszusteigen und in eine Objektbeziehung mit dem Therapeuten und der Umwelt einzutreten. Der Arzt sollte die positive Übertragung fördern und für den therapeutischen Fortschritt nutzen. Um den Kampf gegen die monumentale Abwehr der Hypochondrie - der Selbstbezogenheit - zu gewinnen, bedarf es erheblicher Geduld und Sympathie für das Leiden des Hypochonders.

Trennung von den Eltern bewirkt:

 
  1. Innere Freiheit vom äußeren oder inneren bindenden
  2. Aggressivität in Gestalt der Hypochondrie richtet sich nach außen.
  3. Der Abbau von Trennungsangst und Schuldgefühlen wandelt sich in Lebensfreude, Zugehen auf die Welt.

Literatur

  1. Freud, S.: Psychologie des Unbewußten, GW III Studiendienausgabe, Fischer Verlag, Frankfurt a. M. (1975), S. 50
  2. Griesinger, W.: Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, Verlag von Friedrich Wreden (1871), S. 218
  3. Molière: Der eingebildete Kranke, Reclam, Ditzingen (1986)
  4. Röder, C. H., Overbeck, G., Müller, T.: Psychoanalytische Theorien zur Hypochondrie, Psyche 11 (1995), S. 1069 - 1098

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