Qualitätssicherung in Psychiatrie und Psychotherapie

 

Die bisherigen Veröffentlichungen im Deutschen Ärzteblatt zum Thema Qualitätssicherung in der Medizin sind voll des Lobes und der Begeisterung. Dem mag ich mich anschließen in Bezug auf die liberalen Richtlinien der KBV zur Qualitätssicherung (11). Das gesundheitspolitische Programm der deutschen Ärzteschaft vom 97. deutschen Ärztetag ließ mich jedoch aufhorchen. Es läßt einen Allmächtigkeitsanspruch des Qualitätssicherungsgedankens erkennen und eine Gleichschaltung der Diagnostik, Therapie und ärztlichen Managements.
Kann Qualität außerhalb der technisch orientierten Medizin überhaupt "gesichert" werden? Und wenn, auf welcheKosten und zu welchem Preis? Gibt es nicht auch erhebliche Einwände und kritische Stimmen gegen die Einrichtung eines Qualitätssicherungssystems in der Medizin, vor allem auf dem Gebiet der Psychiatrie und Psychotherapie? In persönlichen Gesprächen erfahre ich im Kollegenkreis vorwiegend Ablehnung und Skepsis gegenüber dem Thema Qualitätssicherung in der Medizin. Es ist an der Zeit, daß wir das Thema öffentlich und kritisch betrachten.


Zitate aus dem Deutschen Ärzteblatt:

"Qualitätssicherung umfaßt alle Bereiche ärztlicher Berufsausübung und muß im Sinne eines Qualitätssicherungsmanagements in gleicher Weise in allen Versorgungsbereichen durchgeführt werden" (2).
"Die Qualitätssicherung dient auch der Selbstkontrolle des Arztes und erfordert gegebenenfalls eine Verhaltensänderung. Eine Teilnahme ist für jeden Arzt obligatorisch. Eine Teilnahme an qualitätssichernden Maßnahmen muß belegbar und kontrollierbar sein und ärztlich kontrolliert werden" (3).
"Der Deutsche Ärztetag betont, daß nur solche Fachkonferenzen, die von den dazu legitimierten Organen und Institutionen der deutschen Ärzteschaft einberufen wurden, als wahrhafte Konsensus-Konferenzen betrachtet werden dürfen. Der Deutsche Ärztetag hält es für erforderlich, ein eindeutiges Regelwerk zu erstellen, dessen Einhaltung für die Anerkennung der Ergebnisse von Konsensus-Konferenzen Bedingung sein muß" (4).
"In den Qualitätszirkeln geht es um eine durch den Moderator gelenkte Reflexion und Erarbeitung von diagnostischen und therapeutischen Strategien. Dabei steht nicht der einzelne Patient im Zentrum, sondern eine Verbesserung der Effizienz in der Diagnostik und Behandlung einer bestimmten Erkrankung und der Umgang mit praxisrelevanten Problemfeldern (Personal, schwierige Patienten)" (5).
"Sanktionsmechanismen sind nicht das Ziel; sie sind erst bei andauernder schlechter Qualität oder prinzipieller Verweigerung der Teilnahme an Qualitätssicherungsmaßnahmen einzusetzen" (6).


Qualitätssicherung wird zum Selbstzweck

Die Suche nach "validen Daten" kann sich schnell zum Selbstzweck erheben, auch wenn das Gegenteil behauptet wird. Qualitätssicherung mit Sanktionsmaßnahmen, 4-6wöchigen Pflichtveranstaltungen nach nicht näher definierten Maßstäben ist in dieser Form abzulehnen. Wer zur Durchsetzung einer diffusen Qualitätssicherung, die sogar Praxisabläufe, Praxisorganisation und "schwierige Patienten" zum Inhalt hat, Sanktionsmaßnahmen androht, schießt weit über das Ziel eines anzustrebenden hohen medizinischen Standards hinaus. Was macht es für einen Sinn, Protokolle von den Qualitätszirkeln an Kontrollinstanzen zu senden? Was macht es für einen Sinn, daß sich die teilnehmenden Ärzte und Ärztinnen nach einem Fragebogensystem von dem Moderator beurteilen lassen und der Moderator in seiner Arbeit von den Kollegen und Kolleginnen beurteilt wird?
Worauf basiert die Annahme, daß die deutschen Ärzte schlechte Arbeit leisten würden? Als Begründung zur Einführung der Qualitätssicherungsmaßnahmen wird lediglich angeführt, es sei bekannt, daß es auf der Welt große regionale Unterschiede in der medizinischen Versorgung gäbe (7).


Enthumanisierung der Medizin

Laut Ärzteblatt ist eine kosten- und personalintensive Bürokratie vonnöten, um die Qualitätssicherung durchzusetzen. Die deutsche Ärzteschaft schickt sich an, über sich selbst ein Kontrollsystem zu stülpen, das eine Tendenz zur Gleichschaltung erkennen läßt. Das Gedankengut der Qualitätssicherung besteht seit langem in einem Bereich der Psychologie, die menschliche Vorgänge evaluiert, operationalisiert, verifiziert und quantifiziert, aber auch dehumanisiert. Psychotherapie, Psychiatrie und das ärztliche Gespräch sind mehr als der amerikanische Vertreter des Behaviorismus Watson über seine Art Psychologie vermerkt: "Ein rein experimenteller Zweig der Naturwissenschaft, dessen theoretisches Ziel darin besteht, das Verhalten des Menschen vorauszusagen und zu kontrollieren." Das Menschliche zwischen Arzt und Patient läßt sich aber nicht nach den Kriterien der Qualitätssicherung regeln. Im Gegenteil, das Humane verliert an Spontaneität, Originalität und Individualität, wenn es einer kontrollierenden Qualitätssicherung ausgesetzt wird.


Qualitätssicherung an Stelle des freien Spiels der Fakten und Meinungen

Ist die ambulante medizinische Versorgung in Deutschland so schlecht, daß ein derartiges Qualitätssicherungssystem überhaupt installiert werden muß? Ist es nicht vielmehr so, daß sich bisher in einem freien Austausch von Meinungen zwischen der Universität, den Niedergelassenen, der Medizintechnik und der pharmazeutischen Industrie auf freiwilliger Basis ein hoher medizinischer Standard entwickelt hat? Muß sich eine "wahrhafte" qualitätsgesicherte Medizin auf bürokratische Art und Weise durchsetzen? Das Qualitätssicherungssystem birgt Gefahren in sich, da es nicht auf Freiwilligkeit beruhen soll, sondern Sanktionsmaßnahmen ergriffen werden können, wenn ein Arzt die Qualitätssicherung ablehnt und an ihr nicht teilnimmt.


Zeitgeist Qualitätssicherung

Es gibt viele Wege, die nach Rom führen. Dieser Weg gilt auch für die Medizin. Ist es überhaupt möglich, die ärztlichen Erfolge nach einheitlichen Kriterien zu messen? Kann man die Ausstrahlung eines Menschen, seine Fähigkeiten zu heilen und Menschen positiv zu beeinflussen, quantifizieren, verifizieren und evaluieren? Mit Sicherheit nicht und schon gar nicht zu dem Preis von Zwangsteilnahmen an Qualitätszirkeln. Absurd wird die Forderung nach Qualitätssicherung bei dem Thema Psychiatrie-Psychotherapie. Sicherlich gibt es hier Qualitätsunterschiede. Es ist nur bisher nicht möglich, objektivierbare Daten zu erheben. Die Vielschichtigkeit seelischen Geschehens und des psychotherapeutischen Vorgehens, kann nicht mit Psychotests und objektiven Beurteilungen durch die Patienten gemessen werden. Auf psychotherapeutischem Gebiet sind am Heilerfolg derartig viele Faktoren beteiligt, daß Qualitätssicherung auf dem Gebiet der Psychiatrie-Psychotherapie scheitern wird. Wie läßt sich z. B. die Intuition eines Arztes messen, der seine Diagnostik und Therapie aufgrund großer Erfahrung betreibt, die nicht computergespeichert ist? Wer bestimmt denn die Themen des Qualitätszirkels, die auf "Moderatormaterialien" vorgegeben sind? Wer bestimmt, was die einheitlich zu erstrebende Qualität auf dem Gebiet der Psychiatrie-Psychotherapie sei?

Typisch für die Argumentation der Befürworter und Methoden der kumulativen Wissensintegration und Bewertung solchen Wissens ist die Feststellung, daß diese Methoden "unbestreitbar notwendig" seien (8). Wünschenswert mögen wissenschaftlich durchgeführte Qualitätsstandards sein, die Durchführung ist aber mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden und wird an der Komplexität und Realität des Menschlichen scheitern (9). Abgesehen von der Fragwürdigkeit eines derartig weitreichenden Qualitäts-Forschungsansatzes läßt die fehlende Freiwilligkeit an der Teilnahme die bisherige Freiheit der Berufsausübung in Diagnostik und Therapie befürchten. Ich wehre mich gegen die datenmäßige und bürokratische Verwaltung und Vermassung einer Individualmedizin, wie sie uns bisher möglich ist. Der Irrglaube, daß der Mensch und die ihn erfüllenden Lebensprinzipien nach einheitlichen Maßstäben erfaßt werden könnten, bedarf einer grundlegenden Diskussion, damit die Qualitätssicherung in der geplanten Form nicht stattfindet. Ein derartiges Denken läßt sich eher mit technisch-bürokratischem Allmachtsdenken und dem computer- und datenbegeisterten Zeitgeist erklären als mit harten Fakten.

Chargaff spricht vom modernen Wissenschaftsbetrieb als "Triumphlauf eines radikalen Reduktionismus" (1). Es erscheint völlig abwegig, die ungeheure Informationsfülle der modernen medizinischen und biologischen Forschung einem sogenannten Qualitätsdenken zu unterwerfen. Das Chaos an Kenntnis der verschiedenen diagnostischen und therapeutischen Verfahren, sofern es herrscht, wird fruchtbarer sein in Bezug auf die Ergebnisse als ein bürokratisch installierter, allmächtiger Kontrollmechanismus, der bestimmt, was therapeutisch und diagnostisch falsch oder richtig zu sein hat. Der Anspruch einer alleingültigen Lehre birgt auch die Gefahr der Ideologiebildung und des Ausschlusses Anders-Denkender in sich.


Qualitätszirkel - Kontaktfördernd?

Es ist erstaunlich, daß die Qualitätszirkel auch dazu dienen, Kollegialität unter Ärzten und Ärztinnen zu fördern: "Wenn wir Ärzte im großen Konzert wieder mitspielen wollen, müssen wir zusammenrücken, wir müssen zu Kollegialität gezwungen werden. Qualitätszirkel sind hier eine Möglichkeit" (10). Es kann nicht Ziel von Qualitätszirkeln sein, das Gefühl von Gruppenerfahrung und kollegiale Kontakte zu vermitteln. Die Möglichkeit hierzu besteht seit langem, aber auf freiwilliger Basis, z. B. in Balintgruppen.


Die Persönlichkeit des Arztes steht im Vordergrund

Die multifaktorielle Genese vieler Erkrankungen, insbesondere psychischer und psychosomatischer Leiden läßt es nicht zu, bestimmte Psychotherapieverfahren (Verhaltenstherapie, Psychoanalyse, Tiefenpsychologie u. a.) nach einheitlichen Kriterien in Bezug auf Therapie und Erfolge zu beurteilen. In der Allgemeinmedizin, in der Gynäkologie, in der Inneren Medizin, beim Hals-Nasen-Ohrenarzt und vor allem beim Psychiater und Psychotherapeuten spielen die Persönlichkeit des Arztes, sein Charakter, seine Ausstrahlung, seine Intuition und seine persönliche Auffassung von Menschen eine herausragende Rolle bei der Auswahl und der Therapie seiner Patienten. Das Konzept der psychosomatischen Grundversorgung, des Zusatztitels Psychotherapie bietet allen Ärztinnen und Ärzten die Möglichkeit, die Behandlungskompetenz im Umgang mit Patienten zu erhöhen. Es bleibt unverständlich, was Qualitätssicherungsmaßnahmen in dem so sensiblen Bereich des Zwischenmenschlichen zu suchen haben. Es geht doch nicht um irgendwelche technischen Vorgänge, die mehr oder weniger leicht kontrolliert und korrigiert werden können, sondern um das Eigentliche, das den Psychiater und Psychotherapeuten ausmacht: nämlich das Helfenwollen durch den Einsatz des eigenen Unbewußten als therapeutischem Instrument. Dieses läßt sich jedoch nicht reglementieren durch Qualitätssicherungsmaßnahmen, insbesondere nicht durch Sanktionsmaßnahmen.


Einheitsmedizin - Folge der Qualitätssicherung?

Stellen wir uns vor, ein Kollege hat sich den Maßnahmen der Qualitätssicherung auf dem Gebiet der Psychotherapie unterzogen und es wird festgestellt, daß sein Behandlungserfolg bei Bulimie-Patienten z. B. lediglich 50 % beträgt im Vergleich zu 75 % bei den anderen Kollegen. Was ist mit einem derartigen Kollegen zu tun? Wollen wir seine Persönlichkeit verändern, damit er erfolgreicher wird? Psychotherapie ist derartig komplex und kompliziert, daß sich Antworten hierauf erübrigen. Es ist kaum feststellbar, ob sich besonders schwierige Patienten bei diesem Kollegen einfinden, ob er nicht "die richtige Therapiemethode" anwendet, ob er überarbeitet ist, oder aber nur ein durchschnittlicher Psychotherapeut. Vielleicht wird er Ratschläge von Moderatoren erhalten, die er auf Grund seiner Charaktereigenschaften und seiner Gesamtpersönlichkeit nicht annehmen kann. Selbst wenn er sie annimmt, braucht sich immer noch nicht eine erhöhte Effektivität seiner Behandlungsmethode bei Bulimie-Patienten einzustellen. Im übrigen dauert ein derartiges Vorgehen jahrelang, bedarf höchster Genauigkeit bei den Testuntersuchungen, die auch nur immer einen minimalen Ausschnitt aus dem gesamtseelischen Bereich erfassen können.

Was geschieht, wenn ein Kollege oder eine Kollegin sich weigert, die erwünschten Qualitätssicherungsmaßnahmen zu erfüllen, nachdem er sich im Qualitätszirkel offenbart hat? Kommt er dann vor eine Kommission, die die Hüterin der reinen Lehre und wahrhaften Medizin ist? Der Deutsche Ärztetag ist sich zwar bewußt, daß allein Freiwilligkeit die Kollegialität und eine offene Zusammenarbeit in den Qualitätszirkeln ermöglicht. Dennoch sind Sanktionsmaßnahmen vorgesehen. Das Propagieren von "wahrhaften Konsensus-Konferenzen" und die Verheißung einer einheitlichen Medizin leisten der Ideologiebildung und der Bekämpfung der verschiedenen Therapiemethoden untereinander Vorschub. Die Diskussion um die Qualitätssicherung hat begonnen. Möge sie dazu führen, daß die Qualitätssicherungsrichtlinien der Kassenärztlichen Bundesvereinigung allgemein verwirklicht werden, die eine freiwillige Teilnahme vorsehen.

Erschienen in der Zeitschrift: TW Neurologie Psychiatrie 8, Heft 10 (1994), S. 533-534.

 

Literatur:

1) Chargaff, E.: Unbegreifliches Geheimnis, Wissenschaft als Kampf für und gegen die Natur. Klett-Cotta, Stuttgart (1981), S. 21

2) Deutsches Ärzteblatt: 90, Heft 20

3) Deutsches Ärzteblatt: 90, Heft 20

4) Deutsches Ärzteblatt: 90, Heft 20

5) Deutsches Ärzteblatt: 91, Heft 8

6) Deutsches Ärzteblatt: 91, Supplement, Heft 24

7) Deutsches Ärzteblatt: 90, Heft 20

8) Hartkamp, N. in: Diskussionsforum, Forum der Psychoanalyse (1994) 10:87-93

9) Kaiser: Quantitative Psychotherapieforschung - modernes Paradigma oder Potemkinsches Dorf? Forum Psychoanal (1993) 9:348-366

10) Nordlicht: 1/94, S. 36

11) Richtlinien der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, in: Deutsches Ärzteblatt 90, Heft 21, 28.5.1993

 

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