Leitung: Dr. med.
Holger Bertrand Flöttmann
Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin,
Psychotherapie
Borderline-Störung - weiterhin eine fragwürdige Diagnose
Der Begriff der Borderline-Störung hat negative Auswirkungen auf Patienten, Angehörige und Ärzte. Er löst bei Patienten und Angehörigen zumeist Bestürzung aus. Mir schreiben Internetbenutzer: "Habe ich wirklich Borderline?"
Herabsetzende Termini
Die Borderline-Diagnose pathologisiert Menschen. Der Begriff ist mit Schaudern verbunden, mit schwierigen Patienten und mit hoher Belastung selbst spezialisierter Therapeuten. Das Konzept Kernbergs, in dem frühe Störung, Entbehrung, Trauma und primitive Abwehrmechanismen im Vordergrund stehen, ist geprägt von diagnostischer Kälte und Realitätsferne. Die Wörter mangelhaft und primitiv bilden zentrale Adjektive in seinen Schriften. Der Borderline-Patient ist nach Kernberg ein Mängelwesen. Er spricht u. a. von mangelhafter Angsttoleranz, mangelhafter Impulskontrolle, mangelhaft entwickelter Sublimierung. Der Borderline-Patient ist beherrscht von primitiven Objektbeziehungen phantastischer Art, von primitiven Affektausbrüchen, er bedient sich primitiver Projektionsmechanismen. Er sei panneurotisch, pansexuell und sonstwie maskenhaft-dämonisch-unsympathisch.
Minipsychose
Das Wort Borderline besagt, daß die Störung zwischen Neurose und Psychose einzuordnen ist. Obwohl eine psychotisch anmutende Symptomatik oder Episode äußerst selten vorkommt, kennzeichnet gerade ein Einbruch des Unbewußten in das Bewußtsein den Begriff Borderline. Das Seltene gerät fälschlicherweise zur Hauptsache. Ich habe über 800 Therapien mit schweren Angststörungen und anderen der Borderline-Störung zugezählten Symptomen durchgeführt. Hiervon waren lediglich zwei Patientinnen mit einer vorübergehenden paranoiden Gedankenwelt dabei, welche in Belastungssituationen auftrat.
Der Mythos von der Traumatisierung
Die von Kernberg und anderen Autoren dargelegte Borderline-Genese ist vor allem deswegen kritikwürdig, weil sie in vielen Punkten nicht der therapeutischen Realität entspricht. Er postuliert, daß frühe Traumatisierungen und schwere Entbehrungen in den ersten Lebensjahren das Borderline-Syndrom bewirken. Diese Beobachtung kann nur einer sehr eingeengten Klientel oder Sichtweise entspringen. In meiner psychiatrisch-psychotherapeutischen Praxis weisen die Patienten mehrheitlich eine pathologische Bindung an das Elternhaus auf. Das Symbiosekonzept bezieht zwar Trauma und Vernachlässigung ein, betont diese nicht jedoch maßlos über. Vor allem die Traumanalyse zeigt, daß nicht schwere, frühkindliche Störungen oder Traumata die Fülle der Symptomatik bewirken, sondern das Steckenbleiben in infantilen Verhaltensmustern, bedingt durch symbiotische Bindungsmechanismen.
Folgen sexuellen Mißbrauchs
Eine Traumatisierung in Form eines sexuellen Mißbrauchs ist eine gravierende Grenzüberschreitung. Die Macht eines sich in die Seele des Kindes eingekerbten allmächtigen Objekts besteht vor allem darin, daß das Kind nicht erwachsen wird. Sexuell Mißbrauchte bleiben unsicher in der Welt der Sexualität und Erwachsenen. Sie entwickeln die Eßsucht, andere Zeichen von Süchten als Ausdruck von Angst und Regression. Sie haben Angst vor Verantwortung, Angst, sich von dem Mißbraucher zu lösen, aus seinem dunklen Schatten zu treten. Nicht die Verletzung als solche steht im Vordergrund einer sich daraus entwickelnden Symptomatik, sondern die Tabuisierung, die ungeheure symbiotische Bindungsenergie und die aggressive Gehemmtheit, die als Folge des Inzests auftreten.
Spaltungsmechanismen
Eines hat Kernberg nicht erreicht. Die einfachste Beschreibung auffälliger Phänomene als Ziel der Wissenschaft. (1) Nicht nur der Begriff der Spaltung, wie ihn Kernberg, Rohde-Dachser und Volkan definieren, ist verworren, überflüssig und bei meinen Patienten nicht nachweisbar. Er ist in seiner Psychodynamik wenig nachvollziehbar. Spaltungsvorgänge gehören zu den analogen Denkprozessen, die in der rechten Hirnhälfte stattfinden. Der eine spaltet die Welt mehr, der andere weniger, je nach Charakter und Reifung. Mit Jaspers handelt es sich bei dem Erleben und Erfassen von Gegensätzlichkeiten, von Polarität und Dialektik "um eine universale Form des Denkens" und "allen Seins" (2) .
Projektive Identifizierung
Projektive Identifizierungen aufzuspüren, ist der Mühe nicht wert, da nicht nur ich, sondern auch andere Autoren diesen Abwehrmechanismus nicht gefunden haben.
Borderline-Diagnose versus Symbiosekonzept
Wer sich seines Verstandes und seiner Kritikfähigkeit unvoreingenommen bedient, stellt fest, daß die These von der frühen Störung und der Traumatisierung überdehnt ist. Hier wird ein Wandel stattfinden hin zur therapeutischen Realität, in der das Symbiosekonzept im Mittelpunkt steht. Der Begriff Borderline-Störung wird fallen. Im Vergleich zur Theorie des Borderline-Syndroms ist das Symbiosekonzept humanistischer, nicht pathologisierend. Das Symbiosekonzept zeigt vor allem in Bezug auf die theoretische und therapeutische Konsequenz realistische, nachvollziehbare Wege auf. Ich habe mich ausführlich zur Kritik am Borderline-Syndrom geäußert, gleichfalls das Symbiosekonzept dargestellt in meinem Buch: Angst - Ursprung und Überwindung, 4. Aufl., Kohlhammer Verlag (2000).
Literatur:1. Richter, K., Rost, J.-M.: Komplexe Systeme, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M. (2002), S. 5
2. Jaspers, K.: Allgemeine Psychopathologie, Springer-Verlag, Berlin, Heidelberg, New York (1973)
Erschienen in: Neuro Date Aktuell Nr. 126, (1.3.2003), S. 22-25
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